Psychogene Anfälle = Dissoziative Anfälle?
Diagnose: Keine Epilepsie, trotzdem häufig Anfälle…

Es gibt Ereignisse, die epileptischen Anfällen ähnlich sehen – nur aus der Anfallsbeobachtung lassen sich kleine Anfälle meist weder bestätigen noch ausschließen, gerade weil es so verschieden ist, wie Anfälle sich äußern. Nein, ein einfaches EEG erfasst auch nicht immer, ob es diese Epilepsie-typischen „Potenziale“ im Gehirn gibt. Das Gleiche gilt für CT/MRT: Wenn es bei solchen Untersuchungen Auffälligkeiten gibt, gilt die Diagnose als gesichert. Wenn nicht, sollte eine Epilepsie trotzdem nicht 100%ig ausgeschlossen werden.
Es kann auch etwas ganz anderes sein und eine korrekte Diagnose ist Voraussetzung für jede Therapie, also: Immer gründlich nachforschen (lassen), bis wirklich Klarheit herrscht, was los ist.
Wenn die Anfälle nicht eindeutig zugeordnet werden können, müssen eben weitere Diagnoseverfahren angewendet werden. Dafür gibt es Spezialisten, also Neurologen mit dem Schwerpunkt Epilepsie, evtl. mit der anerkannten Qualifikation als Epileptologen oder Fach-Kliniken, insbesondere die Epilepsiezentren, die auch vernetzt sind. Dort kann genauer nachgeforscht werden und nur mit einer exakten Diagnose kommt man zu passenden Behandlungsmaßnahmen.
Erweitertes Grundlagenwissen: Es gibt auch sog. „nichtepileptische“ Anfälle, also anfallsweise auftretende Störungen, die epileptischen Anfällen ähnlich sind – ohne sichtbare/organische Ursache im Gehirn. Epilepsie ist aber die konkrete Bezeichnung für neurologische/hirnorganische Störungen – also das mit den Nervenzellen und Pannen beim Signal-Austausch. Das sind nunmal verschiedene Dinge. Nicht alle Anfälle sind „epileptisch“.
Häufig gibt es psychische Ursachen für derartige Anfälle. Bitte: Das heißt nicht, dass jemand Anfälle „simuliert“, sondern die Leute haben wirklich Anfälle und leiden sehr darunter, nur werden in dem Fall Medikamente, die den Signalfluss zwischen Nervenzellen beeinflussen, die Symptome höchstens eindämmen, aber die eigentliche Ursache bleibt. Andere Krankheit – andere Therapie. Aber so etwas als „hysterische Krankheiten“ zu bezeichnen und nicht ernst zu nehmen ist gefährlicher Unsinn.
Ziel der Therapie sollte immer die Ursache einer Krankheit sein, die eben in dem Fall in der Psyche liegt – kein Spezialgebiet von Neurologen, sondern Psychiatern und Psychotherapeuten. So können auch verhaltenstherapeutische Maßnahmen (bestimmte Übungen) die Anfälle kontrollieren.
Experten verschiedener Fachgebiete sollten hier eng zusammenarbeiten und einige Ärzte sind gleich auf alle Gehirn-Probleme wie Neurologie/Psychiatrie/Psychotherapie spezialisiert. Hier sind wir uns einig, dass das untrennbar verbunden ist. Nochmal: Psychogene Anfälle sind auch „echte“ Krankheiten, nur eben keine Epilepsie und eine OP oder Antiepileptika sind deshalb nicht der richtige Therapieansatz.
Nichtepileptische Anfälle mit psychischer Ursache werden heute meist „dissoziative Anfälle“ genannt und aktuelle Infos dazu findet man fast nur noch unter dieser Bezeichnung. Ich finde „psychogene Anfälle“ oder „psychosomatische Anfälle“ passender/sprachlich korrekt.
Was stört mich an dieser Bezeichnung?
„Dissoziation“ ist medizinisch ein Begriff aus der Psychiatrie. Eine Dissoziative Persönlichkeitsstörung ist ein eigenes Krankheitsbild. Mit Epilepsie hat das nichts zu tun. Die Ähnlichkeit zu epileptischen Anfällen beschränkt sich nach meiner Meinung auf zwei Dinge:
Zum Einen dass es anfallsweise/phasenweise auftritt und manche dabei die Körperkontrolle verlieren. In eher wenigen Fällen haben diese „dissoziativen Zustände“ Ähnlichkeit mit epileptischen Anfällen – hat mal ein Oberarzt der Psychiatrie gesagt und ich selbst habe schon einige Leute in solchen Zuständen erlebt. Das kann sich ganz verschieden äußern, ist nach außen eher unauffällig und kann lange dauern – mit epileptischen Anfällen kaum zu vergleichen/zu verwechseln.
Die zweite Gemeinsamkeit: Es ist eine psychische Krankheit, die auch psychotherapeutisch behandelt werden sollte.
Allerdings gibt es auch bei Psychotherapien verschiedene Ansätze und das Eine wird eher verhaltenstherapeutisch, das Andere eher tiefenpsychologisch behandelt – ein weiteres Argument beides auch begrifflich zu unterscheiden.
Also sind diese „dissoziativen Anfälle“ nur ein (recht kleiner) Teil der psychisch bedingten (nicht-epileptischen) Anfälle. Für mich ist diese Bezeichnung als Ober-Begriff einfach nicht korrekt und verwirrend. Warum verwendet man einen klar definierten medizinischen Begriff seit einiger Zeit für etwas ganz anderes, was nicht in denselben Topf gehört? Als wäre das Thema nicht schon schwierig genug… So verwässert es doch die Diagnose beider Krankheitsbilder? Ich habe auch schon mal jemanden mit (klassischer) dissoziativer Störung im Epilepsiezentrum getroffen – 5 Wochen Aufenthalt ohne Ergebnis… Da gibt es andere Kliniken mit passendem Therapie-Angebot…
Auch hier: Viele haben lieber „richtige Epilepsie“ und wollen Medikamente verordnet kriegen als psychisch krank zu sein… Ich betone nochmal: Dissoziative Anfälle sind eben keine „echte“ Epilepsie, sondern eine psychische Störung.
Psychotherapie ist langwierig und anstrengend. Was in jahrelanger Entwicklung eines Kindes/Jugendlichen evtl. schief gelaufen ist, wird man nicht in ein paar Wochen „wegtherapieren“… aber wer es nicht anfängt, nichts versucht, sich nicht helfen lässt, dem ist nicht zu helfen…
Ich wiederhole: Jeder ist für sich selbst verantwortlich und Menschen sind keine Maschine, die ein Mechaniker reparieren kann.
Letztlich hat sich diese Bezeichnung seit Jahren so durchgesetzt, wir müssen es akzeptieren und hoffen, dass auch alle Ärzte die Doppeldeutigkeit des Begriffes kennen – hier ein paar Downloads zu Dissoziativen Anfällen:
- Info-Flyer vom Epilepsiezentrum Bethel (PDF-Download)
- Info-Flyer vom Epilelepsiezentrum Kleinwachau (PDF-Download)
…und ich habe noch mehr Beispiele für (meiner Meinung nach) Unfug mit Fachbegriffen, bei denen Missverständnisse Schicksale entscheiden können – Thema für einen eigenen Beitrag…
Ist es nicht total irre, dass Leute lieber hören: „Sie haben einen Tumor im Kopf und den müssen wir operieren“, als dass sie in der Psyche nach Ursachen suchen und eine Gesprächstherapie machen? Von wegen: „Ich gehe doch nicht zum Irren-Arzt…“ Weil jeder meint zu wissen (aus Filmen), wie es in diesen „Irrenanstalten“ zugeht und keiner „verrückt“ sein will. Aber wer oder was ist eigentlich „normal“?
Aus eigener Erfahrung: Moderne offene Psychiatrien sind eher ruhig und freundlich, die Leute sind freiwillig dort und wie in jeder anderen Klinik steht es jedem frei die Behandlung abzubrechen – kein Knast, wo „Durchgedrehte“ mit Zwangsjacke eingeliefert und in der Gummizelle ruhiggestellt werden. Man trifft dort erstaunlich „normale“ Leute und macht einzeln oder in Gruppen verschiedenste Arten von Therapie – jeder sein Tagesprogramm. Es gibt dort auffällig viele besonders intelligente, kreative, interessante Menschen und oft bilden sich Freundschaften. Das sind alles „normale“ Leute, die zumindest den Arsch in der Hose haben sich ihre Probleme einzugestehen und erwachsen genug sind, sich darum zu kümmern.
Man muss das klar getrennt sehen zu geschlossenen Psychiatrien, wo Leute zwangsweise eingewiesen und auch festgehalten werden, solange sie für sich oder Andere eine Gefahr darstellen. Das grenzt an Freiheitsberaubung und oft haben z.B. Suchtkranke in klaren Momenten vorher schriftlich ihre Einwilligung dazu gegeben.
Dann gibt es noch die forensische Psychiatre, wo verurteilte Straftäter Haftstrafen mit Psychotherapie absolvieren müssen.
All diese Einrichtungen haben in modernen Ländern nichts mit den „Verwahr-Anstalten“ und „Irrenhäusern“ früherer Jahrzehnte zu tun.
Irgendwann muss doch jeder einsehen, dass psychische Krankheiten keine Schande sind – wohl eher, sie zu verleugnen. Das fängt schon bei der Sprache an (wieder nur meine Meinung). Die Bekloppten sind doch eher die, die ihre Probleme immer tapfer runterschlucken und sich irgendwann wundern, dass es sie kaputt macht. Verdrängter Stress staut sich an und irgendwann kommt der berühmte Tropfen, der das Fass überlaufen lässt…
Das folgt auch aus der allgemeinen Haltung, dass jeder, der nicht offensichtlich körperbehindert ist, gesund ist und funktionieren soll – kein Verständnis dafür, dass jeder nur begrenzt strapazierbar ist.